Geschichte der Tiermedizin

Die Tiermedizin ist ebenso alt wie die Haltung domestizierter Nutztiere, also rund 15'000 Jahre. Ähnlich wie die frühe Humanmedizin war auch die Tiermedizin anfänglich eine mündlich tradierte empirische Volksmedizin. Die ältesten schriftlichen Quellen in der Schweiz sind Abschriften aus dem 14. Jahrhundert der spätrömischen "Ars veterinaria" des Pelagonius und der "Mulomedicina Chironis". Auch das meistverbreitete deutschsprachige Lehrwerk des Mittelalters von Meister Albrant wurde in der Schweiz gebraucht, wie Abschriften und Drucke ("Ein bewärdt Neuw Rossartznybuoch", vor 1547) belegen.

 

Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Tiermedizin nebenamtlich von Bauern, Metzgern, Hufschmieden und Wasenmeistern ausgeübt. Tierseuchenbekämpfung war hauptsächlich eine Angelegenheit von medizinischen und behördlichen Instanzen, z.B. den Sanitätsräten. Tiermedizin als Wissenschaft und als Schule - jedoch lange noch ohne Hochschulstatus - kam in Europa erst mit den pandemischen Seuchen und dem grossen Pferdebedarf der Armeen im 18. Jahrhundert auf. In der Schweiz entstanden die ersten Lehranstalten 1805 in Bern und 1820 in Zürich. 1813 gründete der Zuger Arzt Franz Karl Stadlin die Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST), die seit 1816 das "Schweizer Archiv für Tierheilkunde" herausgibt. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts strebten die Berner und die Zürcher Schule zusammen mit der GST die Vereinheitlichung der tierärztlichen Ausbildung und die Gleichstellung mit der Humanmedizin an. 1900 bzw. 1901 wurden das Berner Tierspital und die Zürcher Tierarzneischule den örtlichen Universitäten angegliedert und waren damit die weltweit ersten universitären Veterinärfakultäten. Bis zum 2. Weltkrieg war der Tierarztberuf eine reine Männerdomäne, danach nahm der Frauenanteil stetig zu. 2001 betrug er unter den Mitgliedern der GST 31%, unter den Studierenden über 70%.

 

In der Schweiz spielte das militärische Veterinärwesen mit zahlreichen Veterinäroffizieren und einem Oberpferdarzt eine wichtige Rolle, wobei an die Stelle der Pferdemedizin zunehmend die Lebensmittelsicherheit trat. Aufgrund des Bundesgesetzes betreffend die Bekämpfung von Tierseuchen von 1917 wurde das zivile Veterinärwesen mit Bezirks- und zunehmend vollamtlichen Grenz- und Kantonstierärzten ausgebaut. 1914 wurde das Eidgenössische Veterinäramt gegründet (seit 1979 Bundesamt für Veterinärwesen). Dieses betrieb 1942-92 in Basel eine Anstalt zur Impfstoffherstellung und verfügt seitdem in Mittelhäusern (Gem. Köniz) über ein modernes Institut für Viruskrankheiten und Immunprophylaxe.

 

Die Nutztiermedizin ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem eine prophylaktische Kollektivmedizin im Dienste der landwirtschaftlichen Produktivität und der öffentlichen Hygiene. Bei den zunehmend verbreiteten Heimtieren hat jedoch die individuelle kurative Tiermedizin stark zugenommen. Eine der Humanmedizin analoge Spezialisierung zeigt sich in besonderen Spezialarzttiteln (etwa für Lebensmittelsicherheit) und Fachgesellschaften (Schweiz. Vereinigung für Kleintiermedizin) einschliesslich der für Fachgeschichte (Schweiz. Vereinigung für Geschichte der Veterinärmedizin). Diese wird jedoch in der Schweiz bislang nicht als akademischer Lehrstoff angeboten.

Quelle

W. Sackmann, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25 August 2010